1868 ist alles bereit. Der erste Spiritus läuft vom Destillationsapparat über die Vorlage. Louis Brüggemann hat sich einen großen Traum erfüllt: Der nordhessische Müllersohn ist nun ein schwäbischer Sprit-Fabrikant. Ein langer Weg, und eine günstige Gelegenheit. Mitte des 19. Jahrhunderts bietet Heilbronn alles, was ein couragiertes Gründerherz begehrt. Die Rückschau zeigt: Wagemut und der Glaube an Fortschritt sind eng mit Heilbronns Geschichte verbunden.
Bis ins 18. Jahrhundert hinein ist Heilbronn vor allem eine bedeutende Handelsstadt. Zahlreiche Groß- und Fernhandelshäuser sind hier beheimatet, denn die Neckarstadt bietet beträchtliche Standortvorteile. Das Neckarprivileg sorgt dafür, dass die Heilbronner „ihren“ Neckar nach Belieben mit Stauwehren bestücken können, sodass für Handelsschiffe kein Vorbeikommen ist. Als Reichsstadt hat Heilbronn darüber hinaus wichtige Privilegien: Das Stapelrecht sorgt dafür, dass auswärtige Händler, die ihre Waren an Heilbronn vorbeitransportieren wollen, nicht weiterziehen dürfen, ohne ihr Handelsgut abzuladen und in der Stadt zum Vorzugspreis anzubieten. International agierende Heilbronner Handelshäuser investieren verstärkt in Mühlen, um Rohstoffe nicht nur zu vertreiben, sondern mithilfe wasserkraftgetriebener Anlagen zur Wertsteigerung zu veredeln. Der Handelsplatz Heilbronn floriert.
Die Mühlen auf der Neckarinsel Hefenweiler sind Vorboten der Industrialisierung.
Um 1800 jedoch herrscht in den meisten Teilen Württembergs Verknöcherung und wirtschaftlicher Niedergang. Die Schwelle zum 19. Jahrhundert lässt auch die Heilbronner stolpern: Das Ende des Alten Reiches bringt den Verlust der Reichsfreiheit mitsamt liebgewonnener Privilegien, Napoleons Kontinentalsperre schränkt den Fernhandel ein und der Wiener Kongress bringt schließlich den Bau des Wilhelmskanals auf den Weg. Schiffe fahren nun einfach an Heilbronn vorbei. Man hat Geld, aber keine Zukunftsperspektive. Also beginnen sich die Heilbronner Handelshäuser neu zu erfinden.
Sie beweisen Mut, experimentieren, starten frühindustrielle Produktionen und kurbeln so die Industrialisierung in Heilbronn an. Ende der 1840er-Jahre hat man mit Dampfeisenbahn und Dampfschiff die damals modernsten Verkehrsmittel der Welt in Heilbronn. Mitte des 19. Jahrhunderts blüht der junge Industriestandort immer stärker auf. Die gute Infrastruktur und die innovationsfreundliche Stimmung lassen eine hohe Branchenvielfalt wachsen. Besonders die Sparten Nahrungsmittel, Chemie, Papierproduktion, Textilindustrie und Metallverarbeitung differenzieren sich immer weiter aus. In nicht wenigen Industriezweigen sind Heilbronner Firmen in den Märkten führend. „Schwäbisches Liverpool“ – der Vergleich passt: Heilbronn gehört bereits ab 1830 zu den Städten mit den meisten Fabriken in Württemberg. Es herrscht allgemeiner Wohlstand. Ihr guter Ruf eilt der Stadt voraus. Auch von außerhalb zieht es zahlreiche Industrielle und Gründer nach Heilbronn. Unter ihnen Louis Brüggemann, der um 1860 seine Fühler ins Schwäbische ausstreckt und dort seine Zukunft wittert.
Louis Brüggemann legt 1868 den Grundstein für das heutige Unternehmen.
Er kommt aus dem nordhessischen Trendelburg, hat eine Ausbildung an der heimischen Lateinschule und in der Landwirtschaft im Gepäck. Am Kasseler Hof verdingt sich der junge Müllersohn vorher als Landwirt, wo er erste Einblicke in die Branntweinbrennerei erhält – und eine Begeisterung dafür entwickelt. Louis Brüggemann glaubt an die Zukunft der Spritgewinnung aus Melasse, einem Nebenprodukt der Zuckerproduktion. Er entwickelt das bisherige Produktionsverfahren weiter – und hat Erfolg. 1865 beteiligt er sich an der Gründung der Brauerei Cluss, Brüggemann & Co, die in Heilbronn unter dem Markennamen Cluss eine längere Erfolgsgeschichte haben soll. Für Louis Brüggemann selbst ist es nur eine Zwischenstation. Er hat andere Pläne, und Heilbronn bietet ihm alles, was er braucht. Louis Brüggemann erwirbt 1867 einen Bauplatz nahe der Badstraße, unmittelbar am Neckar gelegen. Die Stadtverwaltung macht die Straße befahrbar, gibt ihr die Bezeichnung Holzstraße und der künftigen Brüggemann’schen Spritfabrik die Hausnummer 5. Der Bauplan für seine Fabrik sieht neben den Produktionsgebäuden auch ein Wohngebäude vor. Nach Aufstellung von Dampfkessel, Schrot-Mühle und weiteren Apparaturen erhält Brüggemann schließlich die Genehmigung zur Fabrikation von Spiritus in seinem neuen Fabrikgebäude am Neckar.
Louis Brüggemann ist am Ziel, sein Unternehmen ganz am Anfang. Zu Beginn beschäftigt er zehn bis zwölf Arbeiter. Etwa die Hälfte von ihnen ist in Wohnungen innerhalb der Fabrik untergebracht. Die Geschäfte laufen gut an: Louis Brüggemann erweitert noch im gleichen Jahr mit einem einstöckigen Magazinbau und der Installation eines zweiten Dampfkessels. Seine Mitarbeiter erhalten vom Unternehmer freie Kohle, Petroleum und ein Stück Ackerland zum Bebauen. Man erzählt sich, dass auch ein gelegentliches Gläschen Branntwein nicht fehlte.